Neue europäische Rechtsform im Aufwind: Studie belegt Attraktivität der Societas Europaea
Wer heute in Deutschland ein Unternehmen gründen möchte, ist nicht mehr auf die vom deutschen Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsformen beschränkt. Er kann beispielsweise auch die neue supranationale Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft wählen. Seit 2004 steht die Societas Europaea (SE) als grenzüberschreitende Rechtsform zur Verfügung. Große Namen wie Allianz, BASF, Porsche oder Fresenius haben sich bereits für sie entschieden. Allerdings fehlte bislang ein fundierter Nachweis, wie die SE in Europa insgesamt angenommen wird.
Eine erste empirische Untersuchung dazu hat ein Team um Professor Horst Eidenmüller, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Unternehmensrecht an der Ludwig- Maximilians-Universität (LMU) München, nun vorgelegt. Die Juristen untersuchten die Verbreitung der Rechtsform, die bevorzugte Gründungsprozedur, die Größe der SE-Unternehmen, ihre Branchenzugehörigkeit sowie die Organisationsverfassung und vor allem die Motive, die zur Wahl dieser Rechtsform führen.
"Die Untersuchung gelangt zu einer Reihe teilweise überraschender und rechtspolitisch sehr bedeutsamer Ergebnisse", schreiben die Wissenschaftler. "So gibt es bereits sehr viel mehr SEs als das Amtsblatt der EU ausweist." Aus deutscher Sicht bemerkenswert sind nicht nur die Popularität der SE für deutsche Unternehmen, sondern auch die Gründe der Rechtsformwahl: Ein wesentliches Motiv für viele Gründungen liege darin, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der Gesellschaft modifizieren oder in Einzelfällen sogar ganz ausschließen zu können. Weiter ermögliche es die SE, die Verwaltungsorgane zu vereinheitlichen und somit die in Deutschland vorgeschriebene Aufspaltung in Vorstand und Aufsichtsrat zu vermeiden. Durch die Verlegung des Firmensitzes in einen anderen EU-Mitgliedstaat könne zudem ein attraktiveres Steuerrecht gewählt werden.
Ein Ergebnis der Untersuchung: Die SE-Gründungszahlen nehmen jedes Jahr zu. Wurden 2005 europaweit 21 SEs gegründet, so waren es im Jahr 2006 bereits 40 und ein Jahr darauf 85. Für das Jahr 2008 rechnen die LMU-Forscher erstmals mit mehr als 100 Gründungen. Im Juni 2008 war Deutschland Spitzenreiter mit 70 bestehenden SEs. Vor allem in Tschechien werden aber neuerdings außergewöhnlich viele SEs gegründet, so dass die meisten SEs mittlerweile in diesem Land beheimatet sind.
Weiter zeigt die Studie, dass jede zwölfte Gesellschaft seit ihrer Gründung von dem Recht Gebrauch machte, ihren Firmensitz in ein anderes Land zu verlegen. Teilweise wurde die SE gezielt als Vehikel genutzt, um eine ohnehin geplante Sitzverlegung zu verwirklichen.
Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass sich die SE keineswegs nur als Gesellschaftsform für Großkonzerne erwiesen hat. Auch viele kleine und mittlere Unternehmen haben sich für die SE entschieden. Bei den einzelnen Wirtschaftszweigen dominieren der Finanz- und Versicherungssektor sowie das verarbeitende Gewerbe. Gegründet werden SEs häufig über die Umwandlung einer bestehenden Aktiengesellschaft.
Daneben sind viele Gründungen gemeinsamer Tochtergesellschaften und Verschmelzungen zu beobachten. Die LMU-Forscher gehen davon aus, dass sich die Gründungsdynamik bei dieser Rechtsform verlangsamen wird, wenn dem europäischen Gesetzgeber die geplante Einführung einer Europäischen Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea, SPE) als kleiner Kapitalgesellschaft europäischen Rechts gelingen sollte. Eine solche "Europa-GmbH" würde - anders als die SE - nicht mehr ein Mindestkapital von 120.000 Euro erfordern und wäre deshalb gerade für kleinere Unternehmen interessant.
Die Untersuchung basiert methodisch auf einem originär geschaffenen Datensatz, der durch Auswertung der mitgliedstaatlichen Handelsregister gewonnen werden konnte. Daneben wurden strukturierte Interviews mit den Nutzern der Rechtsform in Deutschland geführt. Die Untersuchung ist unter http://ssrn.com/abstract=1316430 abrufbar.
Quelle: München [ LMU ]