Tierwohl muss mehr als ein Marketinginstrument sein

Fachverbände sollten Standards für Selbstverpflichtung erarbeiten

Interview mit dem Geschäftsführer des Instituts für Nachhaltiges Management (ifnm) in Bonn, Dr. Michael Lendle, zu Verständnis und Anforderungen von Nachhaltiger Tierhaltung

?: Herr Dr. Lendle, das ifnm hat gerade in Hannover eine viel beachtete Veranstaltung zum Thema „Nachhaltige Tierhaltung“ durchgeführt. Was ist unter diesem Begriff eigentlich zu verstehen?

Dr. Michael Lendle: Unter Nachhaltiger Tierhaltung verstehen wir grundsätzlich einen tiergerechten Umgang mit Nutztieren. Um jedoch Streitigkeiten über Definitionen von „artgerecht“ oder „tiergerecht“ zu vermeiden, sprechen wir von Haltungsformen, bei denen das Wohl und die Gesundheit der Tiere im Mittelpunkt steht.

?: Was unterscheidet Nachhaltige Tierhaltung vom gesetzlich verankerten Tierschutz?

Dr. Lendle: Nachhaltige Tierhaltung im Sinne von Tierwohl geht über die bestehenden Anforderungen des Tierschutzes hinaus. Wobei ich betonen möchte, dass wir in dieser Hinsicht in Deutschland im weltweiten Vergleich schon mit führend sind. Aber Tierwohl bedeutet eben zusätzlich auch Tiergesundheit und Haltungsformen, die den jeweiligen Ansprüchen der Nutztiere gerecht werden. Hier bedingt zum Teil eins das andere.

So ist Gesundheit auch bei Tieren eine wesentliche Voraussetzung für ihr Wohlbefinden. Also ist zunächst darauf zu achten, dass die Tiergesundheit sichergestellt ist. Zum zweiten müssen die Haltungsbedingungen der Tiere so sein, dass sich das Tier entsprechend angemessen bewegen und verhalten kann. Das betrifft etwa den Auslauf oder die Ausgestaltung des Platzes, auf dem sich das Tier bewegt. Auch dies sind Kriterien, die darüber bestimmen, ob ein Tier sich wohlfühlt.

Wir kennen heutzutage genügend Indikatoren, anhand derer man objektiv ablesen kann, ob ein Tier sich weitgehend wohlfühlt. Nehmen sie als Beispiel die Ferkel, denen die Schwänze kupiert werden, um zu verhindern, dass sich die Schweine gegenseitig die Schwänze abbeißen. Diese Verhaltensstörung gilt jedoch als ein Anzeichen dafür, dass sich die Tiere nicht wohlfühlen. Auch das Kupieren der Schnäbel von Hühnern, die für die Legehennenhaltung vorgesehen sind, geschieht, damit sich die Tiere nicht gegenseitig anpicken, wenn sie enger gehalten werden. Es ist also auch kein Zeichen von Tierwohl, wenn sich Hühner gegenseitig die Federn auspicken. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl anderer Hinweise, anhand derer Experten feststellen können, ob sich Tiere in ihrer Haltung wohl fühlen. Man könnte also durchaus sagen: Tierwohl ist messbar.

Nachhaltige Tierhaltung bedeutet also vor allem Tierwohl, und dazu gehören sowohl Tiergesundheit, als auch die Haltung als tiergerechte Unterbringung und Versorgung.

?: Woran hapert es Ihrer Meinung nach im Hinblick auf Nachhaltige Tierhaltung in Deutschland?

Dr. Lendle: Tierschutz oder auch der Begriff Tierwohl ist für Einige, die ihn sich auf die Fahne schreiben, leider reiner Selbstzweck. Das gilt für bestimmte Organisationen, von denen man den Eindruck gewinnt, dass es ihnen weniger um die Tiere als vielmehr um sich selbst geht. Das gilt aber auch für bestimmte Hersteller oder Händler, die sich selbst als besonders engagiert im Hinblick auf Tiergesundheit und Tierhaltung ausgeben, sich aber letztlich nur mit diesem Etikett schmücken. Da entlarvt sich der Tierschutzgedanke oft als reiner Eigennutz und weniger als ernstgemeintes Engagement.

Also stellt sich die Frage, was verfolge ich mit Nachhaltiger Tierhaltung? Geht es tatsächlich um das Wohl der Tiere, oder soll der Begriff als Marketinginstrument eingesetzt werden? Etwa indem in der Werbung Besonderheiten hervorgehoben werden, die in unserem Verständnis von Tierwohl aber eher fragwürdig sind. Letzteres ist abzulehnen. Hingegen sind wir dafür, denjenigen, die sich bei der Tierhaltung eindeutig dem Tierwohl verpflichten, die Möglichkeit zu verschaffen, diese Anstrengungen auch öffentlich machen zu können.

?: Bedeutet dies, ein zentrales staatliches Tierwohl-Label einzuführen anstatt der firmeneigenen Labels, deren Kriterien nicht nachvollziehbar sind?

Dr. Lendle: Wir wollen, dass der Verbraucher erkennen kann, wenn ein Lebensmittelhersteller beim Tierwohl Herausragendes leistet, indem er deutlich über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgeht. Stellt sich nur die Frage, wie dies dem Verbraucher zweifelsfrei zu vermitteln ist. Dazu ist nicht für jede Tierhaltungsform und schon gar nicht jeden Hersteller ein eigenes Logo oder Label erforderlich.

Wir vom ifnm plädieren stattdessen für eine Selbstverpflichtung auf Ebene der Fachverbände. Diese sollten sich auf einen allgemeingültigen Kodex mit Basisstandards einigen, die sich am Tierschutzgesetz und den anerkannten Vorgaben für Tierhygiene und Tiergesundheit orientieren. In einer Absichtserklärung unterschreiben die Tierhalter und Tierverarbeiter, sich an die vereinbarten Basisanforderungen zu halten. Überwacht wird dies von den Fachverbänden bzw. von ihnen beauftragten Institutionen. Dafür sollte es kein Label geben.

Wer glaubt, darüber hinaus aufgrund seiner eigenen Ansprüche und jener der Verbraucher im Hinblick auf das Tierwohl noch nachhaltiger erzeugte Produkte anbieten zu wollen, der sollte die Möglichkeit bekommen, darauf mit einem eigenen Label hinzuweisen. Dafür brauchen wir keine neue Regelflut, durch die festgelegt wird, was besonders nachhaltig ist.

?: Nun wird gegen solche freiwillige Selbstverpflichtungen häufig eingewandt, dass ihre Einhaltung schwer zu kontrollieren sei und sie letztlich nur zu mehr Aufwand und höheren Kosten führen würden…

Dr. Lendle: Ich glaube, dass derzeit viel Aufwand getrieben wird, um mit Belanglosigkeiten im Bereich Nachhaltigkeit, Tierschutz und Tierwohl an die Öffentlichkeit zu gehen und zu versuchen, sich entsprechend zu profilieren. Dieses Geld könnte man sich sparen, wenn man auf Verbandsebene allgemeine Basisstandards zur Nachhaltigkeit in der

Tierhaltung definieren würde. Darüber hinausgehende Leistungen in diesem Bereich würden dann auch glaubwürdiger als „Added Value“, als Mehrwert deutlich werden. Unter dem Strich wäre meines Erachtens mit einem solchen System wenig Aufwand verbunden, sowohl bürokratisch als auch finanziell.

?: Wie wollen Sie verhindern, dass wie beim so genannten „Greenwashing“ Nachhaltige Tierhaltung als Vortäuschung bzw. Marketinginstrument fehlgedeutet wird?

Dr. Lendle: Dazu brauchen wir eine intensivere Information der Öffentlichkeit. Der Verbraucher muss wissen, was tiergerechte Haltung tatsächlich bedeutet. Er muss dabei auch ein realistischeres Bild vermittelt bekommen, wie Lebensmittel heute hergestellt werden. Ist der Konsument erst in der Lage ist, Produkte differenzierter zu beurteilen, dann fallen die Hersteller von allein auf, die täuschen und sich in Bezug auf Nachhaltigkeit und Tierwohl ein Mäntelchen umhängen, das ihnen nicht zusteht.

Zudem sollten sich die jeweiligen Branchen noch gezielter als heute von den schwarzen Schafen in ihren Reihen befreien. Dann verliert auch der Vorwurf des „Greenwashing“ an Glaubwürdigkeit. Ob dazu ein Pranger im Internet notwendig ist, wie im Falle von „Lebensmittelklarheit.de“, halte ich für fraglich. Wichtig ist jedoch, die Blender und Täuscher auszusortieren, damit nicht mehr pauschale Vorwürfe gegen ganze Branchen erhoben werden können.

?: Halten Sie unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit ein staatliches Signet vergleichbar dem Bio-Logo für überflüssig?

Dr. Lendle: Wir brauchen keinen Staat, der in Wirtschaftsprozesse eingreift, wenn sich die Branche wie beschrieben selbst verpflichtet. Wenn es allerdings in den nächsten Jahren nicht zu einer Selbstverpflichtung auf Fachverbandsebene kommen sollte, dann ist darüber nachzudenken, ob man nicht bundesweit oder für die gesamte EU und im Idealfall sogar weltweit im Rahmen der WTO-Verhandlungen Tierwohlstandards implementiert. Denn es geht um die Tiere.

?: Welchen Beitrag können Sie vom Institut für Nachhaltiges Management dazu leisten, Nachhaltigkeit in der Tierhaltung voranzubringen?

Dr. Lendle: Aus unserer Sicht ist besonders wichtig, dass wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst schnell ihren Weg in die Praxis finden. Dazu wollen wir beitragen, indem wir den Dialog zwischen Wissenschaft und Forschung auf der einen Seite sowie der Praxis auf der anderen Seite intensivieren. Das schließt auch durchaus Kritik aus der Praxis an wissenschaftlichem Vorgehen mit ein. Letztlich sollten sich beide Seiten im Sinne des Tierschutzes zu einem Optimum hochschaukeln. Das Institut für Nachhaltiges Management versteht sich in diesem Gefüge als neutrale Plattform, die in der Funktion eines Netzwerks Forschung und Praxis zusammenbringt, um Tierschutz und Tierwohl nachhaltig voranzubringen.

?: Das heißt, Sie übernehmen eine Moderatorenrolle?

Dr. Lendle: Nennen wir es eine Mediatorenrolle mit viel eigener Meinung. Wir bemühen uns zudem, alle Beteiligten an der Wertschöpfungskette Lebensmittel zum offenen Gespräch zusammen zu führen. Das betrifft im Bereich der tierischen Nahrungsmittel nicht zuletzt den Dialog mit den Tierschutz- bzw. Verbraucherorganisationen. Denn Konfrontation beim Tierwohl hilft keinem, am wenigsten den Tieren, um die es eigentlich gehen sollte.

Quelle: Bonn [ ifnm ]

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