Kochsalz gibt der Fachwelt Rätsel auf

Erstaunliche Resultate der Mars500-Stoffwechselstudie

 

Beim Ausbalancieren des Salzhaushalts ist der menschliche Organismus viel flexibler als bisher angenommen. Dieser Schluss aus den Ergebnissen ihrer Langzeitstudie kam selbst für die Gruppe von Jens Titze unerwartet. Das Team um den Professor für Elektrolyt- und Kreislaufforschung am Uni- Klinikum Erlangen ermittelte neben dem als Standard geltenden 24-Stunden- Rhythmus einen Zeitraum von sechs bis neun Tagen für den Ausgleich von Kochsalz-Zufuhr und -Abgabe. Und: Außer der Niere sorgen auch andere Körpergewebe für den richtigen Salzgehalt. Die Fachzeitschrift Cell Metabolism veröffentlicht diese Erkenntnisse am Dienstag, den 08. Januar 2013.

Die russisch-deutsche-europäische Mars500-Mission, eine simulierte Reise zum Nachbarplaneten in den Jahren 2009 und 2010, hatte die einzigartige Gelegenheit geboten, Stoffwechseldaten von den Teilnehmern zunächst an 105, dann an 205 aufeinanderfolgenden Tagen zu erheben. Nahrungsaufnahme und Ausscheidungen in der geschlossenen „Raumkapsel“ ließen sich strikt kontrollieren. Für jede Person war ein täglicher Vergleich der im Speiseplan vorgeschriebenen Salzdosis mit der Konzentration von Natrium im Urin möglich. Nach der gängigen Lehrmeinung hätte die im Salz enthaltene und mit dem Essen aufgenommene Natriummenge innerhalb von 24 Stunden den Körper wieder verlassen müssen – doch beide Messwerte hielten sich keineswegs die Waage. Es gab sogar recht starke Schwankungen in der täglichen Ausscheidung, obwohl die Zufuhr gleich blieb.

Der Sammelurin eines Tages reicht demnach nicht aus, um einzuschätzen, wie viel Speisesalz ein Mensch im selben Zeitraum zu sich genommen hat. Damit ist die Grundlage eines gebräuchlichen Diagnoseverfahrens erschüttert. „Als ärztliche 24-Stunden-Sammler konnten wir das eigentlich zuerst kaum glauben. Früher bin ich routinemäßig selbst so vorgegangen. Ich habe den Patienten viel zu hohen Salzkonsum vorgeworfen, wenn wieder mal 16 Gramm Salz gefunden wurden, und bei 6 Gramm oder weniger daran gezweifelt, dass sorgfältig gesammelt wurde“, gesteht Jens Titze ein. Keine gegenteilige Beteuerung seiner Patienten hat ihn damals überzeugt. „Ich konnte mir das nicht vorstellen, aber nach Mars500 kann ich es.“ Ein Wechsel zwischen drei Tagesmahlzeiten mit unterschiedlichem Salzgehalt änderte nichts an dem Ergebnis.

„Wo wir von Konstanz ausgegangen sind, produziert der Körper rhythmische Variabilität, und deren Ausmaß ist sehr, sehr überraschend“, kommentiert der Projektleiter. Im Vergleich dazu erscheint das Zusammenspiel von Kochsalz und bestimmten Hormonen in den Urinproben zunächst einfach. Cortisol, bisher eher als Nebendarsteller betrachtet, spiegelt den Natriumgehalt direkt wider; in umgekehrtem Verhältnis dazu steht der bekannte Regulator Aldosteron, der Natriumsalze im Körper hält und Kaliumsalze aussondert. Doch auch dies war für das Forscherteam nach eigenem Bekunden „ganz erstaunlich“. Cortisol wurde vorher als Unterstützer von Aldosteron angesehen. Der neue Befund kennzeichnet die zwei Hormone aber eindeutig als Gegenspieler. Titze spricht von einem „Cortisol-Geheimnis“, das dringend nach Aufklärung verlangt.

An schwersten jedoch wiegt, dass der „Superregulator“ im Kochsalz- Stoffwechsel, die Niere, diese zuvor unangefochtene Position verlieren könnte. Das Blut passiert ihre reinigenden Filter und gibt die verbliebenen Stoffkonzentrationen an alle durchbluteten Körperregionen weiter. Doch offenbar vertraut der Organismus nicht allein darauf. Manche Gewebe haben zusätzlich eigene Methoden entwickelt, sich die bevorzugte Menge Kochsalz aktiv zu sichern. Dabei richten sie sich weder nach Tagen noch nach Wochen. Haut und Muskeln speichern Natrium offenbar über Monate hinweg, ganz unabhängig von der Kochsalzzufuhr und ohne Veränderung des Gewichts oder des Volumens. Wie aber kann eine Substanz so unfassbar durch den Körper geistern? Bis die Fachleute ihr auf die Schliche gekommen sind, muss wohl die Bemerkung von Titzes Teamkollegen Friedrich Luft gelten, der den Salzstoffwechsel „gespenstisch“ nennt.

„Was sind unsere Untersuchungen zur Abschätzung der Kochsalzaufnahme – im klinischen Alltag wie in Feldstudien – angesichts dieser neuen Informationen überhaupt wert?“ fragt Jens Titze nun sich und alle Nephrologen. Mit den Belegen für ihre Aufforderung zum Sichtwechsel steht die Gruppe immerhin nicht ganz allein. Die Haut als Salzspeicher ist seit der 90er Jahren in der Diskussion. Bei Blaualgen oder einzelnen Zellen wurden Wochenrhythmen beobachtet, die denen der Marsreisenden ähneln. Und wenn der erste Schreck vorbei ist, könnte die medizinische Forschung an menschlichen Probanden neu belebt werden: Auch ohne Gen-Knock-out-Modelle oder Zellreihen sind umwerfende Ergebnisse denkbar.

Quelle: Erlangen - Nürnberg [ Friedrich-Alexander-Universität ]

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