1968. Die Große Unschuld

Kunsthalle Bielefeld, 15. März – 2. August 2009

Die große Unschuld„Richtungen funktionieren nicht mehr; und auch die lineare Geschichtsentwicklung ist etwas zerfasert“, hatte Donald Judd bereits 1965 analysiert und damit ein künstlerisches Unbehagen diagnostiziert. Es sollte in den folgenden Jahren zu einem Kunstimpuls führen, der mit dem Begriff der „Großen Unschuld“ gefasst wird.

Die Künstler entdecken neue Tätigkeitsfelder im Außenraum (Land Art), neue Materialien (Arte Povera) und auch ein neues konzeptuelles Bewusstsein ihrer Arbeit (Conceptual Art). Vertreter der Minimal Art übergeben die manuelle Kunstproduktion an Fachbetriebe. Sie wollen nicht mehr im gesetzten Rahmen funktionieren, den Harald Szeemann 1969 als „das ‚Dreieck’, in dem sich Kunst abspielt – Atelier, Galerie, Museum“ bezeichnet, sondern ihre eigenen Gesetze aufstellen. 

Sie selbst bestimmen die Vermittlungsformen und die Kunsträume. Somit wird das ganze Kunstsystem neu justiert.

Die „Große Unschuld“ bezeichnet die sowohl naive als auch selbstbewusste Haltung, mit der sich Künstler ins Zentrum dieses Dreiecks stellen, um von nun an als Gesetzgeber ihrer Arbeit zu fungieren. Viele Künstler misstrauen den hehren Kunstgattungen Malerei und Skulptur. Stattdessen befragen die Performance-Künstler ihren Körper wie Vito Acconci oder VALIE EXPORT. Künstlerinnen stellen ihr Geschlecht und die damit konnotierten Zwänge ins Zentrum ihrer radikalen Werke (Louise Bourgeois, Yayoi Kusama).

Indem sich die Künstler bei ihrer Suche nach Authentizität auf sich und ihre Erfahrungen konzentrieren, beginnen sie einen moralischen Dialog mit sich selbst. Ihre Kunst erscheint als individueller, radikal autonomisierter Zugriff auf Raum und Zeit. „Unschuldig“ bleibt der Künstler insofern, als er sein Tun ironisiert und sich fortlaufend selbst in Frage stellt (Sigmar Polke, Bruce Nauman).

Aus dieser Autonomisierung des Individuums um 1968 resultiert der große Wandel der Kunstgeschichte. Die Märkte wachsen infolge dieses Impulses in zuvor nicht gekanntem Ausmaß, die globale zeitgenössische Kunstkultur entsteht.

Ob man hinter „Die Große Unschuld“ ein Frage- oder ein Ausrufezeichen setzen sollte, klären ca. 350 Werke von 150 Künstlern, die die drei Etagen des Philip Johnson-Baus füllen werden.

„1968. Die Große Unschuld“ analysiert amerikanische, europäische und asiatische Künstler ebenso wie visionäre Architekten am Beispiel von rund 300 Werken. Das dazugehörige Buch erscheint bei DuMont und wird zum Preis von 24,80 Euro während der Ausstellungszeit im Museum verkauft. Es wird von der Ernst von Siemens Kunststiftung gefördert. 

Die Ausstellung wird finanziell von der Kunststiftung NRW, der Kulturstiftung der Sparkasse Bielefeld, den Stadtwerken Bielefeld, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bielefelder Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft ermöglicht.

Die Ausstellungskapitel im Einzelnen:

Architektur

„Unsere Räume sind pulsierende Ballons“, schreibt die Coop Himmelblau 1968 und kennzeichnet damit die mobilen, flexiblen Visionen von Architekten wie Hans Hollein oder Mitgliedern der Gruppe Archigram. 

So beginnt die Ausstellung „1968. Die Große Unschuld“ mit mehr als 10 experimentellen Architekturen zum paradiesischen Dasein auf Erden, wie einem „Ballon für Zwei“ an der Fassade der Kunsthalle und fruchtblasenartigen Wohn-Hüllen.

Deutschland

Die deutsche Kunst findet ab 1963 zunehmend internationalen Anschluss. Ob Konrad Lueg, Sigmar Polke oder Gerhard Richter, sie geht in Düsseldorf einen auf Selbstprüfungen und Methodenstrenge ausgerichteten Weg, bei dem Ironie im Spiel ist. Franz Erhard Walther entwickelt seinen „1. Werksatz“, demzufolge Galerien und Museen zugunsten direkter Betrachterbeziehungen aufgehoben werden sollen. 

Joseph Beuys gründet 1967 die „Deutsche Studentenpartei“. Anselm Kiefer „besetzt“ 1969 verschiedene europäische Landschaften mit Hitlergruß.

Pop Art

Nachdem Richard Hamilton in London, Andy Warhol und Claes Oldenburg in New York zu den wegweisenden Pop-Künstlern Anfang der 1960er Jahre avancieren, stellt das Jahr 1968 ihre Werke entweder politisch radikaler oder aus neuen Perspektiven vor. Die Pop Art erlebt einen großen Terraingewinn. Andy Warhol vergrößert die „Electric Chairs“ im Rahmen seiner Stockholmer Museumsretrospektive zu „Big Electric Chairs“. Sie bilden in unterschiedlichen Variantenneben Werken von Richard Artschwager oder Ed Ruscha einen Höhepunkt der Ausstellung.

Geschlecht und Kunst um 1968

In der von weißen heterosexuellen Männern dominierten Kunstwelt erheben um 1968 verstärkt Künstlerinnen ihre Stimme. Ihre gesellschaftliche Diskriminierung wie auch ihre persönlichen Neurosen und Ängste thematisieren sie in frechen, sexuell expliziten Werken (Louise Bourgeois, Yoko Ono) und Körper-Aktionen (Yayoi Kusama, Rebecca Horn), die einen feministischen Befreiungsgestus zeigen.

Arte Povera

Der 1967 von Germano Gelant erstmals verwendete Begriff Arte Povera beschreibt einen bewussten Umgang mit „armen“, kruden Materialien in oftmals amorphen Formen. Künstler wie Giovanni Anselmo, Jannis Kounellis und Mario Merz  präsentieren Werke, deren Eigenschaften Bezugssysteme zwischen Mensch und Natur verdeutlichen sollen.

Conceptual Art

„Ideen allein können Kunstwerke sein.“ Die Conceptual Art verzichtet entweder ganz auf ein Objekt oder bringt Objekte hervor, die unspektakulär, schlicht oder wie Vergrößerungen eines Lexikonartikels wirken. Dass ein Kunstwerk allein im Kopf existieren kann und nicht materiell umgesetzt werden muss, zeigen Künstler wie die Gruppe Art & Language, Joseph Kosuth und Lawrence Weiner.

Performance / Aktionismus

In unmittelbaren, körperbezogenen Aktionen bringen Künstlerinnen um 1968 ihre kritische Haltung gegenüber den tradierten Formen der Kunstproduktion zum Ausdruck. Zunehmend wird der eigene Körper als Medium und als Material in den Mittelpunkt gestellt, wie in den Arbeiten von Vito Acconci oder den Wiener Aktionisten. Die Ausstellung wirft auch ein Schlaglicht auf die politisch brisanten Performances in Osteuropa von Künstlern wie Milan Knízák, Jerzy Beres oder der Red Peristil Group.

Film / Video

Eine junge Generation von Filmemachern und Künstlern wendet sich gegen die ambitionierte Filmkunst mit ihren Präsentations- und Distributionsformen und fordert ein Kino, das seine Grundlage erforscht. Im Zentrum steht die Materialität des Films und die Entdeckung des „Films als Film“ mit Künstlern wie Marcel Broodthaers, Kurt Kren und B + W Hein. Anfangs zögerlich, dann zunehmend stärker, nutzen bildende Künstler das neue Medium Video, um ihre Aktionen und Performances in karger Schwarzweißästhetik aufzunehmen (Joseph Beuys, Bruce Nauman).

Fotografie

Fotografen in den USA, Afrika der Sowjetunion und Japan finden in häufig seriell angelegten Arbeiten zu einer radikal subjektiven Dokumentarfotografie (Lee Friedlander, Diane Arbus, Boris Mikailov und Larry Clark), während immer mehr bildende Künstler die Fotografie als Material für ihre Arbeit entdecken (Andy Warhol)

Lichtkunst

Zwischen Erleuchtung und sensorischer Deprivation erleben ihre Betrachter die Lichtkunst, die, ausgehend von Forschungen zum „Ganzfeld“, gänzlich immateriell auftritt (Douglas Wheeler). Dan Flavin dagegen arbeitet mit Neonröhren als skulpturalen Elementen. Der alte Malertraum von der „reinen Farbe“ wird mit dem alltäglichen Medium Kunstlicht endlich Wirklichkeit.

Land Art

Künstler wie Robert Smithson, Richard Long, Michael Heizer und Walter De Maria arbeiten ökologisch orientiert oder geben Exerzitien aus. Mit ihrer Vergrößerung von Raum und Zeit im Kunstbetrieb werden die bisherigen Dimensionen eines Werks gesprengt. Die Künstler zwingen den Betrachter, an entlegene Orte zu reisen, wenn ihre Konzentrationsübungen nicht sowieso unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und nur in der Dokumentation durch Fotografie und Film überliefert werden.

[Die Kunsthalle Bielefeld im Internet]

Quelle: Bielefeld [ Kunsthalle Bielefeld ]

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