Kaufkraft 2006: Deutschland, der kranke Mann Europas oder Europameister?

Der diesjährige europäische Kaufkraft-Vergleich offenbart: Deutschland ist nach wie vor der größte Konsumenten-Markt Europas. Die 82,4 Millionen Einwohner Deutschlands erreichen in diesem Jahr voraussichtlich 1495 Mrd. Euro an nominaler Kaufkraft, 19,5% des europäischen Kaufkraftvolumens von 7681 Milliarden Euro. Ob die Bundesbürger ihr verfügbares Einkommen nun für Urlaubsreisen ausgeben oder in die Alterssicherung investieren, dieser Kaufkraftbetrag ist in jedem Fall die Basis, von der aus jeglicher Konsum und jegliches Sparen getätigt werden: das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben, inklusive staatlicher Transferleistungen.

Die aktuelle europaweite Studie des Nürnberger Regionalforschungsinstituts MB-Research sieht an zweiter Stelle Großbritannien, dessen gut 60 Millionen Einwohner mit 1180 Mrd. Euro vor Frankreichs knapp 61 Millionen Bewohnern mit 1076 Mrd. Euro liegen. Danach folgen Italien (59,5 Mio Einwohner mit 943 Mrd. Euro) und Spanien (knapp 44 Mio Einwohner mit 536 Mrd. Euro Kaufkraft).

Kaufkraft 2006 in Europa

Kaufkraft 2006 in Europa

Während viele amerikanische und britische Investoren daher den deutschen Markt verstärkt ins Visier nehmen, auch wegen der im internationalen Vergleich zurückgebliebenen Preisentwicklung für Immobilien und der als günstig wahrgenommenen Unternehmensbewertung vieler Firmen, richten deutsche Investoren, Hersteller, Händler und Dienstleistungsfirmen den Fokus bei der Expansion mehr und mehr auf die bisher kleineren, aber stärker wachsenden und erst allmählich wettbewerbsintensiveren Märkte im Osten. Marktgröße allein ist schließlich noch kein Garant für Erfolge: So musste beispielsweise auf dem konkurrenzreichen deutschen Lebensmittelmarkt selbst der weltgrößte Handelskonzern Wal-Mart sein Engagement verlustreich beenden, und auch die deutschen Einzelhändler wie Metro, Rewe, Tengelmann oder Lidl erzielen in Ländern wie Polen, Ungarn oder Slowenien inzwischen wesentlich höhere Renditen als in Deutschland. Inzwischen haben die deutschen Handelskonzerne mit der zweiten Phase ihrer Ost-Expansion begonnen, in Länder wie Bulgarien, Rumänien, Russland und Ukraine.

Kaufkraftstärkste Länder im Osten sind laut der Kaufkraftdaten von MB-Research, die mehr und mehr marktführenden und mittelständischen Unternehmen zahlreicher Branchen zur Planung ihrer Auslandsaktivitäten dienen,  Russland mit 286 Milliarden Euro, das in diesem Jahr die Niederlande überholt und nun europaweit bereits auf Platz 6 in Europa rangiert, Polen (145 Mrd. Euro), Ungarn und Tschechien (jeweils 46 Mrd. Euro) sowie zunehmend auch Rumänien (40 Mrd. Euro). Wachstumsmärkte sind darüber hinaus auch die Türkei (155 Mrd. Euro) oder Irland (75 Mrd. Euro).

Pro Kopf der Bevölkerung wird die Kaufkraftrangliste 2006 von Luxemburg angeführt. Die nur ca. 460 000 Einwohner des bedeutenden Finanz- und Verwaltungszentrums verfügen im Durchschnitt über ca. 27 000 Euro und liegen damit an der Spitze vor der Schweiz, den skandinavischen Ländern Norwegen, Island und Dänemark sowie Großbritannien und Österreich; letzteres hat inzwischen den Nachbarn Deutschland überholt. Dahinter führt Deutschland das vordere Mittelfeld mit ca. 18 000 Euro pro Kopf an.

Kaufkraft 2006 in Euro pro Kopf

Kaufkraft 2006 in Euro pro Kopf

Um den Wohlstand der Bewohner eines Landes zu beurteilen, müssen jedoch zusätzlich zum Einkommen auch die Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden. Die Reihenfolge der realen Pro-Kopf-Kaufkraft lautet dann Luxemburg (235% des europäischen Durchschnitts) vor Schweiz (198%), Großbritannien (173%), Österreich (169%), Belgien, Deutschland, Frankreich und Island (je 161%).

Kaufkraft 2006 in Kaufkraftparitäten

Kaufkraft 2006 in Kaufkraftparitäten

In der Untersuchung der Pro-Kopf-Kaufkraft der über 1500 Regionen Europas durch MB-Research belegen die Schweizer Kantone zahlreiche vordere Plätze. Das Steuerparadies Zug und das Wirtschafts- und Finanzzentrum Zürich mit gut 33 000 bzw. knapp 32 000 Euro behaupten vor Londons bevorzugtem Wohnviertel nordwestlich der Themse, Inner London-West, mit knapp 31 000 Euro pro Einwohner und Jahr die Spitzenplätze. Aus Deutschland gehören die Landkreise Starnberg südwestlich von München (Nr. 6 mit Euro 28.600) und Hochtaunuskreis nördlich von Frankfurt (Nr. 8 mit Euro 27.300) zu Europas Spitzengruppe. In diesen Regionen ist das durchschnittliche verfügbare Einkommen eines Tages höher als ein Monatseinkommen in den meisten Regionen der Ukraine, den ärmsten Regionen der Südosttürkei, Südrusslands, Albaniens, im Kosovo oder in Moldawien.

Kaufkraft 2006 in Euro pro Kopf in NUTS 3 - Regionen

Kaufkraft 2006 in Euro pro Kopf in NUTS 3 - Regionen

Pro-Kopf-Kaufkraft 2006 in den Regionen Europas  

Pro-Kopf-Kaufkraft 2006 in den Regionen Europas

MB-Research analysiert als erstes Marktforschungsinstitut seit diesem Jahr systematisch diese Daten auch im zeitlichen Vergleich. Beim Wachstum der nominalen Kaufkraft in Euro gehen die Spitzenplätze an russische Regionen. Im Zeitraum der letzten 5 Jahre stieg, unter den Millionen-Städten und -Regionen, das verfügbare Einkommen in St. Petersburg am stärksten. Mit 87% Zuwachs (auf Euro-Basis) verzeichnet die bereits als Detroit des Nordens bezeichnete Stadt an der Newa, die mehr und mehr Produktionsstätten der internationalen Automobilkonzerne aber auch Unternehmenszentralen inländischer Unternehmen an sich zieht, gegenüber 2001 fast eine Verdoppelung. Zu Städten und Regionen mit einem Wachstum von mehr als 50% zählen u.a. auch Moskau, Bratislava, Istanbul, Ankara und Sofia.

Kaufkraftwachstum 2001-2006 in den Regionen Europa  

Kaufkraftwachstum 2001-2006 in den Regionen Europa

Am stärksten fiel das nominale Pro-Kopf-Kaufkraftwachstum insgesamt in Russland mit 65% und in der Slowakei mit 63% Zuwachs gegenüber 2001 aus. Deutschland gehört dagegen nach stagnierenden Löhnen und Gehältern, Personalreduzierungen und Arbeitsplatzverlagerungen und dem erst in diesem Jahr gestoppten Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einem mageren Kaufkraft-Anstieg von knapp 9% in 5 Jahren, der gerade noch die Inflation ausgleichen konnte, zu den Schlusslichtern der europäischen Kaufkraftentwicklung.

Russlands Aufschwung wird zu einem großen Teil von Steigerungen der Öl- und Gaspreise getragen. Auch wenn noch 25 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, führt die gestiegene Kaufkraft inzwischen zu hohen Zuwächsen beim Wohnungsbau,  einer Ausweitung der internationalen Einzelhandelsketten auch in die russische Provinz und einer deutlichen Zunahme des privaten Konsums. Dagegen wurde das slowakische Wirtschaftswunder mit einschneidenden Reformen erreicht. Diese ließ mit einer Einheitssteuer von 19%, einem weitgehend privatisiertem Gesundheitswesen und umgebautem Renten- und Sozialsystem, welche die Investitionen aus dem Ausland stark erhöhte, die Löhne deutlich steigen und die Arbeitslosigkeit stark sinken. Dabei wurden allerdings Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose finanziell deutlich schlechter gestellt und die Ungleichheit der Einkommensverteilung auch hier verstärkt. Wie die Slowakei und Russland schneiden auch die übrigen Länder, die die Einführung eines einheitlichen Satzes bei der Einkommenssteuer, die so genannte Flat Tax, realisierten - Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Serbien und Montenegro sowie die Ukraine - im Kaufkraftwachstum auffallend gut ab. In Deutschland dagegen wurde das Thema inzwischen als den Wählern nicht vermittelbar beerdigt und selbst die ökonomisch so erfolgreiche slowakische Regierung wurde im Juni von der Bevölkerungsmehrheit abgewählt.

Zur Studie:

Die Ergebnisse stammen aus den soeben erschienenen MB-Research Europadaten 2006. Diese regelmäßig durchgeführte Untersuchung erhält ausführliche Informationen zu Kaufkraft, Soziodemographie und Wirtschaftskraft der über 1500 europäischen Regionen. Marktführende und mittelständische Unternehmen zahlreicher Branchen, aus dem In- und Ausland, setzen die MB-Research Europadaten zur Planung ihrer Auslandsaktivitäten ein. Die in diesem Jahr erstmals erhobenen Zeitreihendaten ermöglichen es, die Länder und Regionen in ihrer Entwicklung zu analysieren.

Quelle: Nürnberg [ MB-Research ]

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