Verbraucherpolitische Forderungen der Lebensmittelwirtschaft für die 2. Hälfte der 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL) hat die "Halbzeit" der 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zum Anlass genommen, eine Bilanzierung der bisherigen verbraucherpolitischen Aktivitäten im Bereich Lebensmittel vorzunehmen und Erwartungen sowie Forderungen der deutschen Lebensmittelwirtschaft für die "2. Hälfte" zu formulieren.
Die Branche und der BLL
Mit rund vier Millionen Beschäftigten und ca. 587 Milliarden Euro Umsatz, der in 767.000 Betrieben erarbeitet wird, stellt die Lebensmittelwirtschaft einen der bedeutendsten Wirtschaftszweige in Deutschland dar.
Vertreten wird die Lebensmittelwirtschaft durch den Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL). Als Spitzenverband repräsentiert er die Lebensmittelwirtschaft entlang der gesamten Lebensmittelkette, beginnend mit der Landwirtschaft, über die Industrie, das Handwerk bis hin zum Handel sowie die Großverbraucher, alle Zulieferbereiche einschließlich des Futtermittelsektors und die Tabakbranche. Zu seinen Mitgliedern zählen rund 90 (Fach-) Verbände, ca. 300 Unternehmen (von mittelständischen Unternehmen bis zu multinationalen Konzernen) und über 150 Einzelmitglieder (vor allem private Untersuchungslaboratorien und Anwaltskanzleien). Das Aufgabengebiet des BLL umfasst die Entwicklung des europäischen und deutschen sowie des internationalen Lebensmittelrechts und die aktive Begleitung der einschlägigen naturwissenschaftlichen Disziplinen.
Der BLL ist Gesprächspartner von Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Verbraucherorganisationen und Medien im Politikfeld „Lebensmittel und Verbraucherschutz“.
Notwendige Rahmenbedingungen
Überwiegend mittelständisch geprägt benötigt die Lebensmittelwirtschaft zur Erhaltung und Stärkung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Rahmenbedingungen, die Investitionsanreize bieten, Überreglementierung und bürokratische Hemmnisse vermeiden sowie auf lenkende Eingriffe in das Marktgeschehen verzichten. Nur durch eine angemessene Berücksichtigung der Wirtschaftsinteressen im Rahmen der Verbraucherpolitik können die notwendigen Handlungsspielräume vor allem für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden und kann die Lebensmittelwirtschaft ihrer Rolle als ein Motor der Volkswirtschaft weiter gerecht werden. Von Seiten der Politik ist anzuerkennen, dass die Lebensmittelwirtschaft tagtäglich für ein vielfältiges Angebot sicherer und qualitativ hochwertiger Lebensmittel sorgt.
Vor diesem Hintergrund stellt die deutsche Lebensmittelwirtschaft für die zweite Hälfte der Legislaturperiode folgende Forderungen an die Politik in Deutschland:
1. Ein effektiver gesundheitlicher Verbraucherschutz im Binnenmarkt ist nur über harmonisierte, wissenschaftsbasierte Maßnahmen und ein funktionierendes Krisenmanagement zu gewährleisten!
Europäische Harmonisierung vorantreiben – auf nationale Alleingänge verzichten
Vor dem Hintergrund globaler Warenströme und eines wachsenden Binnenmarktes können Verbraucherschutz und insbesondere Lebensmittelsicherheit nur durch harmonisierte Regelungen auf EU-Ebene gewährleistet werden; nationale Alleingänge fördern dagegen eine Rechtszersplitterung zulasten der Verbraucher und der Wirtschaft. Harmonisierung unterstützt nicht nur die Etablierung eines unionsweit einheitlichen Verbraucherschutzniveaus, sondern beugt auch Wettbewerbsverzerrungen (zum Nachteil der deutschen Lebensmittelwirtschaft) vor. Aus diesem Grunde sind europäische Lösungen in überfälligen Regelungsbereichen wie Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe sowie Regelungen zu „sonstigen Stoffen“ aktiv voranzutreiben. Nationales Recht ist zeitnah an die EU-Rechtsentwicklung anzupassen, um Überschneidungen, Widersprüche und damit Irritationen beim Rechtsanwender zu vermeiden.
Wissenschaftsbasierung stärken
Die Risikobewertung von Lebensmitteln hat nach den Vorgaben des Unionsrechts „auf den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen und ist in einer unabhängigen, objektiven und transparenten Art und Weise vorzunehmen“. Die Lebensmittelwirtschaft hält es für zwingend notwendig, sich im Rahmen des Risikomanagements wieder primär auf die Ergebnisse der unabhängigen wissenschaftlichen Risikobewertung von EFSA und BfR zu stützen (z. B. bei der Entscheidung über Zusatzstoffe). Darüber hinaus sollte die Präsenz hochqualifizierter Wissenschaftler in europäischen und internationalen Gremien gesteigert werden, um deren Aktivitäten mitgestalten zu können.
Aus Krisen lernen
Vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen (Dioxin und EHEC) ist das behördliche Krisenmanagement im Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen den Behörden (bspw. BVL, BfR und RKI), die Informationswege und deren Effizienz (bspw. Form der EHEC-Meldungen), die Koordination (bspw. Einrichtung einer dauerhaften Task-Force von Bund und Ländern; zügige Zusammenführung der vorhandenen Daten unterschiedlicher Ebenen) zu überprüfen. Insbesondere im Bereich der Risikokommunikation auf Behördenseite ist eine Abstimmung gerade auch zwischen Bund und Ländern unerlässlich, um Verunsicherung der Verbraucher und Schäden auf Seiten der Wirtschaft zu vermeiden. Zudem ist eine angemessene Beteiligung/Information der Lebensmittelwirtschaft im Krisenfall sicherzustellen.
Krisenmanagement am Risiko, nicht an der politischen Wirkung ausrichten
Maßnahmen des Krisenmanagements und der Krisenaufarbeitung müssen sich am tatsächlichen Risiko orientieren und notwendig, geeignet und wirkungsvoll sein. Sie müssen sich auf eine sachbezogene und differenzierte Analyse stützen können und dürfen nicht von politischem Aktionismus getrieben sein (bspw. Ausweitung der Meldepflichten auf nationaler Ebene). Nur auf diese Weise kann dem staatlich verfolgten Ziel eines „Mehr“ an Futtermittel- oder Lebensmittelsicherheit tatsächlich Rechnung getragen werden.
Bürokratie abbauen
Zur Reduzierung der Überreglementierung und zum Abbau bürokratischer Hürden sind die laufenden Initiativen zum Bürokratieabbau und zur besseren Rechtssetzung weiterzuführen und zu forcieren.
Diesem Ansatz zuwiderlaufende Maßnahmen wie die Ausweitung von Informationspflichten gemäß § 44a LFGB sind kontraproduktiv und stellen die Ziele dieser Initiativen in Frage.
Mitwirkungsrechte der Wirtschaft wahren
Auch bei der politischen Aufarbeitung von Krisen, insbesondere bei der Umsetzung in gesetzgeberische Folgemaßnahmen, sind die Transparenzgrundsätze und Mitwirkungsrechte der betroffenen Wirtschaft gemäß Artikel 9 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 strikt zu wahren; insbesondere, wenn auf der Grundlage der Risikobewertung unter dem Aspekt der Lebensmittelsicherheit keine Dringlichkeit besteht, ist es unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt, auf eine Anhörung der Wirtschaft zu verzichten.
2. Bei den anstehenden Rechtsänderungen im Bereich der Verbraucherinformation ist den legitimen Schutzrechten der Lebensmittelwirtschaft angemessen Rechnung zu tragen.
Einseitige Verbraucherinformation vermeiden
Adressatengerechte, aussagekräftige und wahre Verbraucherinformationen sind unabdingbar, um dem mündigen (informierten) Verbraucher Auswahl, Kauf und sachgerechte Verwendung von Lebensmitteln zu ermöglichen. Staatliche Verbraucherinformationen, die der öffentlichen Meinungsbildung dienen sollen, unterliegen besonderen rechtlichen Anforderungen an Sachlichkeit, Objektivität und Neutralität; sie dürfen nicht zu einer Diskriminierung legal vermarkteter Produkte oder Produktgruppen führen (Bsp.: Produktbezogener Teil des Internetportals „Klarheit und Wahrheit“; Ablehnung von Nahrungsergänzungsmitteln etc.).
Die Lebensmittelwirtschaft selbst bietet ein hohes Maß an Informationen durch tagtägliche Direktkontakte (Post, E-Mails, Telefonhotlines, Internet, persönlicher Umgang), die bei ihren Kunden eine hohe Akzeptanz finden. Diese zigtausend Direktkontakte übersteigen die Anträge nach dem Verbraucherinformationsgesetz (1. Jahr: 487; 2. Jahr: 314) um ein Vielfaches.
Rechte der Wirtschaft bei VIG-Novelle angemessen wahren
Bei der laufenden Novellierung des Rechts der Verbraucherinformation muss schon wegen der möglichen wirtschaftlichen Folgen der Veröffentlichung ungesicherter, im Nachhinein unzutreffender Informationen für die betroffenen Unternehmen ein angemessener Ausgleich zwischen Informationsinteressen der Verbraucher und Schutzinteressen der Unternehmen gewährleistet sein. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind mitbestimmend für den Wert eines Unternehmens und bedürfen daher eines umfassenden Schutzes. Anhörungsrechte und effektive Rechtsschutzmöglichkeiten dürfen nur in Ausnahmesituationen (drohende Gesundheitsgefahr für den Verbraucher) eingeschränkt werden. Dies gilt mit Blick auf die Unschuldsvermutung auch für Namensnennungen in noch laufenden Verfahren.
Kontrollbarometer darf nicht nur „auf Kosten“ der Wirtschaft gehen
Die geplante Veröffentlichung von Überwachungsergebnissen im Internet („Kontrollbarometer“) entfaltet unter den derzeit vorgeschlagenen Rahmenbedingungen – wie die Wirtschaftsministerkonferenz richtigerweise festgestellt hat – eine fortdauernde prangerähnliche Wirkung, gerade auch wenn Mängel unverzüglich beseitigt worden sind. Ein akzeptables Veröffentlichungskonzept setzt aufgrund der daraus resultierenden Wettbewerbsauswirkungen eine erhebliche Aufstockung der personellen und finanziellen Mittel der Überwachung zwingend voraus. Die angestrebte Vergleichbarkeit der Betriebe verlangt notwendigerweise aktuelle, aussagekräftige und repräsentative Ergebnisse und damit zwangsläufig eine höhere Dichte bzw. Frequenz der amtlichen Kontrollen. Daher ist auch eine zeitnahe Nachkontrolle zur Rehabilitierung erforderlich, um Betriebe nicht dauerhaft zu schädigen. Ohne eine Aufstockung des Kontrollpersonals in den Ländern wird es keine Vergleichbarkeit geben und ohne Vergleichbarkeit hat ein Kontrollbarometer keinen Wert für den Verbraucher, aber unter Umständen drastische Folgen für den betroffenen Betrieb. Kostenneutralität kann nicht Rechtfertigung für eine systemadäquate Kontrolle zu Lasten von Verbrauchern und Wirtschaft sein.
3. Angebots- oder nachfragelenkende Maßnahmen durch den Staat sind kein akzeptables Steuerungsinstrument; vielmehr ist einem Ausbau der Verbraucherbildung Vorrang einzuräumen.
Staatliche Lenkung im Lebensmittelmarkt unterlassen
Staatliche Lenkung des Lebensmittelmarktes gilt es auch zukünftig zu unterlassen. Dies betrifft sowohl das Produktangebot als auch die Vermarktung und insbesondere die Werbung. Mit dem Lebensmittelrecht werden aber – gerade auf EU-Ebene – zunehmend gesundheitspolitisch motivierte Ziele verfolgt, für die die Union weder Mandat noch Kompetenz hat. Nährwertprofile, staatliche Maßnahmen zur Reduzierung des Salz-, Zucker-, Fett und/oder Energiegehaltes in Lebensmitteln oder eine in Mitgliedstaaten zunehmend geforderte Strafsteuer für bestimmte Lebensmittel sind hierfür prominente Beispiele. Die Lebensmittelwirtschaft lehnt eine Konsumlenkung strikt ab; sie beinhaltet einen nicht akzeptablen Eingriff in die freie Entscheidung des Verbrauchers und der anbietenden Lebensmittelwirtschaft; sie führt zu einer durch nichts gerechtfertigten politischen Diskriminierung bestimmter Lebensmittel.
Verbraucherbildung verstärken
Erziehung, geschweige denn Bevormundung der Verbraucher kann nicht Aufgabe der Gesetzgebung sein. Notwendig ist vielmehr die Sicherstellung der Information der Verbraucher, die sie in die Lage versetzt, eigenverantwortlich zu entscheiden. Dazu ist die Verbraucherbildung zu Ernährung und Lebensmitteln und die Vermittlung eines gesunden Lebensstils zu verstärken.
Internationalen Bevormundungstendenzen entgegentreten
Die Themen Gesundheit und Lebensstil und damit zusammenhängend auch die Rolle der Ernährung gewinnen angesichts weltweit hoher Zahlen übergewichtiger Menschen zunehmend an Bedeutung.
Wissenschaftlich anerkannt ist, dass Übergewicht viele unterschiedliche Ursachen hat. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Übergewicht auf der einen Seite und Bewegungsarmut, niedrigem Bildungsgrad und sozialer Schicht auf der anderen Seite. Der Lebensstil insgesamt spielt eine entscheidende Rolle. Lösungsansätze sind daher als gesamtgesellschaftliche Herausforderung nur interdisziplinär zu entwickeln. Politische Ansätze, die die Verantwortung auf das Angebot und die Vermarktung von Lebensmitteln mit den allseits bekannten Aspekten „wertende Kennzeichnung“, Reformulierung und Werbeverbote reduzieren, setzen die falschen Schwerpunkte, um das Problem wirksam anzugehen. Die Lebensmittelwirtschaft fordert die Bundesregierung auf, solchen Bestrebungen auf europäischer oder internationaler Ebene energisch entgegenzutreten.
4. Die Ausgestaltung gesetzlicher Vorgaben muss für die Lebensmittelwirtschaft praktikabel sein.
Praktikable Lösung für GVO-Spureneinträge in Lebensmitteln schaffen
Jegliche, noch so geringfügige Spurennachweise von nicht in der EU zugelassenen GVO in Lebens- und Futtermitteln führen derzeit zu einer Nichtverkehrsfähigkeit der betroffenen Produktcharge.
Aufgrund des weltweit steigenden Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, des internationalen Rohstoffhandels und der immer sensitiveren Analysemethoden ist die rechtliche Vorgabe einer Eintragsfreiheit selbst minimalster Spuren in der Praxis nicht zu erfüllen. Rechtsunsicherheit für die betroffenen Unternehmen und enorme finanzielle Schäden wie zuletzt im Fall kanadischer Leinsaat sind die Folge. Aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft ist daher kurzfristig eine Ausweitung der bislang lediglich auf Futtermittel beschränkten sog. „technischen Lösung“ auf Lebensmittel erforderlich, um eine praktikable Anwendung der geltenden Nulltoleranz-Regelung zu gewährleisten.
Rahmenbedingungen für Innovation stärken
Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der mittelständisch geprägten Lebensmittelwirtschaft hängen wesentlich davon ab, ob Innovationen schnell und vorhersehbar vermarktet werden können.
Die Bereitschaft der Unternehmen zu neuen, innovativen Produkten oder Verfahren kann daher durch eine innovationsfördernde, vereinfachende und verfahrensbeschleunigende Ausgestaltung der zur Überarbeitung anstehenden Novel Food- Verordnung entscheidend gefördert werden.
Quelle: Berlin [ BLL ]